Nach der im Sommer 1915 beginnenden Rückeroberung jener von der russischen Armee 1914 besetzten Gebiete in Ostgalizien und der Bukowina durch die k.u.k. Armee, bekam in der Monarchie die Lebenssituation der Bevölkerung in diesem vom Krieg am vehementesten betroffenen Teil der Monarchie zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit. Damit rückten auch die tausenden Kriegswaisen, deren Eltern während der russischen Besatzungszeit nach Russland verschleppt, ermordet oder durch Hunger und Epidemien ums Leben gekommen waren und die nun ohne Obdach und Schutz lebten, in den Focus des medialen Diskurses. Nachdem die Regierung Ende 1915 ein staatlich finanziertes Fürsorgeprogramm – verwaltet durch das das 1914 zur Fürsorge der Familien der Einberufenen gegründete Kriegshilfsbüro des Ministerium des Inneren und dessen Leiter Eduard Prinz Lichtenstein – zur Jugend- und Kriegswaisenfürsorge in Galizien ins Leben gerufen hatte, wurde zu dessen Finanzierung zu Spendensammlungen aufgerufen. In der Folge kam es im Frühjahr 1916 zu den ersten Bemühungen die Kriegswaisenfürsorge in Galizien zu organisieren, als in Krakau unter federführender Mitwirkung des Statthalters von Galizien, Hermann von Colard, das „Landes-Zentralkomitee für Kriegswaisen in Galizien“ gegründet wurde. Im Mittelpunkt stand der Aufbau von Waisenhäuser und Kinderfürsorgeeinrichtungen möglichst vor Ort.
Zur Zur Unterstützung dieser Einrichtungen und zu dessen finanziellen Absicherung wurde im April 1916 in Wien auf Initiative der Organisation „B’nai B’rith“ und ihrem Präsidenten dem Mediziner und Universitätsprofessor am Allgemeinen Krankenhaus in Wien, Salomon Ehrmann, sowie der Wienerin Lisette Gelber, der „Verein zur Rettung verlassener jüdischer Kinder Galiziens und der Bukowina“ gegründet.

Zum Präsidenten des Vereines wurde das Präsidiumsmitglied der „B’nai B’rith Wien“, Gründer des „Hilfsverein für die notleidende jüdische Bevölkerung in Galizien“, und Mediziner am Allgemeinen Krankenhaus in Wien Edmund Kohn (1863-1929), zum ersten Vizepräsidenten Salomon Ehrmann und zur zweiten Vizepräsidentin Lisette Gelber gewählt.

Lisette Gelber (*21.8.1889 Wien, gest. 8.12.1935 Antwerpen/Belgien), geborene Winter, stammte aus einem Wiener großbürgerlichen jüdischen Elternhaus, und wirkte seit Kriegsbeginn in karitativen Organisationen zur Linderung der Not der Bevölkerung Wiens mit. Sie engagierte sich u.a. im „Komitee für den Haussammeldienst“, der mit Sammelwagenfahrten die Einbringung von Lebensmitteln und Bekleidung für Hilfsbedürftige und in Not geratene Menschen mitorganisierte.
Der Verein setzte sich zum Ziel die Unterbringung und der Bekleidung von Kriegswaisenkindern in Galizien und der Bukowina zu organisieren, Pflegeeltern zu finden und die staatliche wie private Fürsorge für die durch den Krieg verwaisten oder verlassenen jüdischen Kinder zu fördern. Dazu arbeitete der Verein von Anfang an eng mit dem in Galizien existierenden Landes- „Zentralkomitee für die Waisenfürsorge“ zusammen, ohne deren finanziellen Zuwendungen durch den Verein er bereits Mitte 1916 seine Tätigkeit einstellen hätte müssen.
Am Beispiel dieses Vereins zeigt sich, dass die während des Krieges vom Staat gesetzten Zielvorgaben der Durchführung von Fürsorgeprogramme und die dafür geschaffenen kommunalen Stellen in finanzieller wie organisatorischer Hinsicht nur durch die private Mitwirkung aufrecht erhalten und wirksam werden konnten. Das Ausmaß des Erfolges dieser Aktion lässt sich an den Ergebnissen ermessen. Bis zum Frühjahr 1917 gelang es aus 72 verwüsteten Ortschaften Galiziens die hier zurückgebliebenen Waisenkinder zu erfassen und sie in Waisenhäuser unterzubringen und zu versorgen, bzw. eine Unterbringung bei „Pflegeeltern“ zu organisieren. Vom Kriegshilfsbüro wurden die gesammelten Spenden nach einem mit dem Rechtsanwalt und juristischen Vertreter des Vereines, Ludwig Gelber (1865-1931), dem Ehemann von Lisette, vereinbarten konfessionellen (jüdischen und christlichen) Aufteilungsschlüssel zur konfessionsübergreifenden Hilfe für die Waisenkinder in den früheren Kriegsgebieten eingesetzt, um öffentlich den „Gesamtösterreichischen“ – über die Nationen und Konfessionen stehenden – Charakter des staatlichen Hilfsprogrammes darstellen zu können. Bis Jänner 1917 schuf der Verein in Galizien und der Bukowina 22 Anstalten, Waisenhäuser und Heime und ermöglichte damit tausenden Kindern, die in zerstörten Dörfern und Städten aufgefunden worden waren, Schutz und Chancen zum Überleben. Die Finanzierung wurde von Wien aus durch Spendensammlungen erreicht, womit neben der Infrastruktur auch die in Eigenregie arbeitenden Nähwerkstätten, die zur Selbstversorgung der Kinder mit Bekleidung aufgebaut wurden, ermöglicht werden konnte. Die größten Einrichtungen für Waisenkinder befanden sich in sogenannte „Kriegswaisenkolonien“ in Lemberg, Belz, Rawa Ruska, Gródek, Przemysl, Sambor,Tarnow, Jaroslau, Stanislau, Kolomea, Tarnopol, Krakau, Rzeszow und Ernsdorfbei Bielitz (heute: Szczereż), die bis zum Kriegsende vom Kriegshilfsbüro und dem Verein finanzielle Förderungen erhielten. Alleine in Lemberg konnten bis Anfang 1918 3500 Kinder versorgt werden und im Kriegsjahr 1918 fanden 11.000 Kinder durch die Hilfe des Vereins in Galizien eine Betreuung. Im November 1916 richtete der Verein eine von Ludwig Gelber betraute Stiftung ein, die sich aus den Spenden des Großindustriellen Moritz Hermann Reich speiste. Eine wesentliche Unterstützt fand der Verein durch Journalisten wie Felix Salten, der in der „Neuen Freien Presse“ mit seinem Feuilleton „Wer nicht herzlos ist“ die Situation des Kinderelends im Nordosten der Monarchie nachdrücklich thematisierte und damit die Spendenbereitschaft über Monate hinweg positiv beeinflusste

Im Mai 1918 bekam Lisette Gelber für ihre Verdienste um Kinderschutz und Jugendschutz das „Kriegskreuz für Zivilverdienste 2. Klasse“ verliehen. Ähnlich wie die Flüchtlings-Fürsorgeaktion von Anitta Müller führte der Verein nach dem Ersten Weltkriegs seine Arbeit ungebrochen weiter und unterstützte, nach Abänderung der Vereinsstatuten im Jahr 1920 und einer Namensänderung des Vereines in „Verein zur Rettung verlassener jüdischer Kinder“, zirka 3.000 Kinder in Wien und organisierte Ferienaktionen für die von Hunger bedrohten Kinder. Dieser 1916 gegründete Verein existierte noch nach ihrem Tod von Lisette Gelber im Jahr 1935 weiter und wurde erst nach dem „Anschluss“ im März 1938 von den Nationalsozialisten aufgelöst. Lisette Gelber führte ihr soziales Engagement nach dem Ersten Weltkrieg weiter. Im Herbst 1920 rief sie den Verein „Mittelstandsfürsorge für geistige Arbeiter in Not“ (später: „Aktion zur Rettung verlassener Kinder und Mittelstandsfürsorge“) ins Leben, und unterstützte von Armut betroffene jüdische Studenten an der Universität Wien. Gemeinsam mit Edmund Kohn war sie in den Jahren 1919 und 1920 für das „Hilfskomitee für die ukrainisch-jüdischen Pogromopfer“ aktiv.
Text: Dr. Walter Mentzel
Text, copyright: Dr. Walter Mentzel
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